Sich selbst gehören

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Was bedeutet es, sich nicht selber zu gehören? Es kann meinen, sich einem anderen Menschen hinzugeben. Es kann aber auch bedeuten, nicht mehr Herr über sich selbst zu sein. Beide Bedeutungen sind im Netz der Technik wirksam. Wir geben uns der Technik bedingungslos hin. Wir liefern uns ihr aus. Sie ist der Körper, mit dem wir uns vereinigen. Indem wir das tun, verschwenden wir uns selbst.

Wer kann noch von sich sagen, sich selbst zu gehören? Identität löst sich auf in Datenmustern und Handlunsgclustern, in Kundenprofilen und Patiententstammdaten, in Sprecherrollen und Aktionstypen. Der Mensch ist zu dem geworden, was von ihm erwartet wird. Er wartet auf ein Signal aus dem technischen Raum, das ihm sagt, wer er als nächstes ist und was er als nächstes tun soll. Amazon empfiehlt, was andere gekauft haben, die uns ähnlich sind. Das Ich wird durch den Schwarm real entkleidet. Im Textilkaufhaus C & A werden auf den Kleiderbügeln die Facebook-Likes angezeigt, die das Produkt erzielt hat, um seine Beliebtheit zu dokumentieren und um Kaufreize zu setzen. Das Soziale ist die Ressource, die den Konsum stimuliert. In anderen Geschäften kann man in der Umkleidekabine das neue Outfit via Videokamera den Freunden im Internet zeigen. Die Hingabe an die Technik wird erotisch. Sie ist Selbstverlust als Selbstentblößung. Sie ist eine Form des Opfers.

Das Ich gibt sich in der Technik den anderen preis, deren Projektionen, wer dieses Ich sein könnte, dieses Ich konstituieren. Aus diesem zirkulären Selbstverlust gibt es kein Entkommen. Auch wenn man keine eigenen Bilder ins Netz stellt, wird man in den sozialen Medien auf den Bildern anderer markiert und kommentiert. Die Möglichkeit, im Netz die eigene Reputation zu kontrollieren, hat nur derjenige, der sich am Netz beteiligt. Dann kann er Inhalte löschen, ändern, verschieben. Der Kreislauf aus Hingabe und Selbstverlust ist unauflöslich. Die Blackbox konditioniert ausweglos. Heute können viele nicht mehr Kopfrechnen, weil die Maschine die Operation erledigt. In ein paar Jahren wissen wir nicht mehr, wer ein Freund ist, wenn wir nicht in Facebook nachsehen.

Können wir nicht einfach sagen: Diese Anti-Sprache der Technik spreche ich nicht? Nein, denn die Texturen der Technik, die Entfremdungstexturen sind, stehen nicht als eine Option zur Verfügung, die man wählen kann oder nicht. Selbst wenn wir das Gefühl haben, in die Texturen der Entfremdung noch nicht eingetaucht zu sein, wenn wir noch daran glauben, weitgehend analog zu leben, dann sind wir doch auf eine Haltung angewiesen, beharrlich das „Echte“ unserer Freundschaften, unserer Gefühle, unseres Erlebens von dem nur Virtuellen des Netzes abgrenzen zu müssen, dass die Authentizität permanent gefährdet. Wir sind gezwungen, unsere Gefühle zu verifizieren. Die Welt der Gefühle und des Sozialen hat sich verdoppelt. Der Diskurs über die Echtheit des Fühlens ist bereits der erste Schritt der Entfremdung. Die Simulation zwingt in die Defensive. Facebook-Gegner müssen ihr Verneinen begründen, um glaubwürdig zu sein. Wir können nicht mehr „Freund“ sagen, ohne innerlich die Unterscheidung zu machen zwischen einem echten Freund und einem nur virtuellen. Wir können nicht „ich mag das“ sagen, ohne an den „Like“-Daumen von Facebook zu denken. Wir können kaum noch sagen „Das ist eine schöne Erinnerung“, ohne an das Bedrohungspotential der digitalen Speicher der totalen Erinnerung zu denken. Wir können kaum noch über eine Landschaft meditieren, ohne die Bilder des Navigationssystems mitzudenken, das uns an diesen Aussichtspunkt gebracht hat. Wir virtualisieren uns bereits in Gedanken.

Unsere Gefühle haben sich verdoppelt. Verdoppelte Gefühle aber sind Gefühle, die ihre Unschuld verloren haben. Es sind Gefühle, die einen Schatten des Zweifels werfen. Es sind vorsichtige, abwägende Gefühle, die sich selbst nicht über den Weg trauen, die immer erst auf eine Antwort warten, bevor sie sich zustimmen können. Immer warten wir auf das Ergebnis, auf das Echo, das der digitale Raum zurückwirft. Unser Handeln hängt ursächlich von dieser Antwort ab. Diese Antwort ist ein digitaler Vorbehalt, unter dem das Leben steht. Je mehr Lebenswirklichkeit in binären Code übersetzt wird, desto größer wird die Abhängigkeit von der Antwort, desto mächtiger wird der Vorbehalt. Die Replik auf eine versandte Email oder auf ein geteiltes Urlaubsbild in einem sozialen Netzwerk bestimmt die Zukunft unseres Handelns. Sharing ist eine Form der Selbstaufgabe, weil sie die Autonomie des Handelns nimmt. Digitales Teilen ist zwar zu einer positiv konnotierten Handlung geworden. Man sieht darin eine neue soziale Gerechtigkeit am Werk, eine Bereitschaft, andere teilhaben zu lassen am eigenen Leben. Es scheint sich eine Überwindung des Egoismus anzukündigen, eine kommunitäre Grundverfassung. Carsharing ist das Paradigma der neuen Gemeinsamkeit. Der soziale Charakter der sozialen Medien wäre aus dieser Sicht immer beides zugleich: Gemeinsamkeit und Gemeinschaft, Verbindung und Verbündung.

Doch ist auch erkennbar, wie Teilen zugleich ein Verzicht auf Sich-selbst-gehören einschließt. Die totalisierte Geste des Teilens führt dazu, dass niemand mehr etwas bei sich behalten kann, weil er nicht weiß, ob er es will und ob es zu ihm passt. Es führt dazu, dass der Wert von Gedanken und Gefühlen, von Dingen und Waren von der Reaktion des Schwarms abhängt – von der Richtung, in der er schwimmt. Es führt dazu, dass sich kein radikal eigener Standpunkt mehr bildet. Es führt zur Idee des Allgemeinen.

An dieser Idee des Allgemeinen muss sich das Ich beständig abgleichen, um zu wissen, wer es überhaupt ist und wo es steht. Das Internet und die digitalen Informationskanäle, vor allem die sozialen Medien, sind generalisierte Strukturen eines permanenten Abgleichs, an dem sich die Idee des Allgemeinen herausbildet, die für den einzelnen stilbildend wird. Gesellschaftliches Resultat dieser Generalisierung ist immer die gleiche Patt-Situation, bei der 50 Prozent für eine Sache und 50 Prozent dagegen sind. Das beste Beispiel hierfür war die Stimmenverteilung der Facebook-Seiten pro und contra Stuttgart 21, die sich immer die Waage hielt. Hier ist ein kybernetischer Prozeß am Werk, der  Gesellschaftliche Wirklichkeit wird auf zwei basale Grundannahmen reduziert. Der Diskurs kommt nicht mehr in Gang. Deshalb kann es keine Basisdemokratie geben, die auf dem Internet beruht. Das Leben in einer solchen Gesellschaft muss sich nicht mehr diskursiv einlassen und entscheiden, sondern nur noch eines tun: Klicken oder nicht Klicken, Ja oder Nein sagen. Und eine nicht-diskursive Gesellschaft, das heißt eine solche, die nicht mehr auf Argumente hört, sondern nur noch auf Quantitäten, würde immer wieder zu einer paritätischen Verteilung von Pro und Contra führen: zu einer sich unendlich wiederholenden Bestätigung der Idee des Allgemeinen.

Das Bewusstseinskorrelat dieser sich nicht mehr selbst gehörenden Haltung eines Allgemeinen ist ein vages Gefühl der Gerechtigkeit und des gut meinenden Engagements, das auf jede Form persönlicher Authentifizierung verzichten kann, weil es sich „im Allgeimenen“ gut aufgehoben weiss. Man kann in der diskurslosen Gesellschaft gar nicht anders, als engagiert zu sein. Denn einer der beiden Parteien gehört man immer an. Sprachlicher Reflex dieser Haltung des Allgemeinen sind Floskeln wie „alles gut“ oder „lecker irgendwas“. Die Idee des Allgemeinen ist ein Abführmittel für jede Form von spezifischem Inhalt. Sprache gleitet als halb geformte Floskel durch uns hindurch. Wir formen Worte und Sätze, die nicht aus uns kommen. Wir sind Relais-Stationen eines elektrischen Sprachflusses.

Die Freiheit des Sich-Selbst-Verschenkens, der wahren Hingabe, ist eine Freiheit der Identität. Wer sich aus Liebe einem Menschen oder einer Idee hingibt, der hat sich aus freien Stücken dazu entschieden, sich aufzugeben. Diese Hingabe ist freiwilliger Selbstverlust, der die eigene Person überhöht. Selbst-Verlust ist dann Selbst-Gewinn. Das Sich-selbst-Verlieren in den Strukturen des Allgemeinen ist kein freier Akt, sondern es ist ein schleichendes, sich langsam vollziehendes und schwer zu registrierendes Aufgeben der eigenen Identität. Es ist die langsame Durchtaktung der eigenen Existenz mit der Idee des Allgemeinen. Es ist Verlust von Würde und, damit zusammenhängend, der Verlust von Stil.

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